AM74 – Brief an Walter Gropius
Semmering Kurhaus, Donnerstag, 22. Juni 1911 [= Poststempel]


[Postskriptum:] Warum schreibst Du – Dein lieber mein Geliebter.

Mein

Tausend Dank für alles! Die Truhe ist famosin den Seitentheilen. Das Obertheil liebe ich nicht besonders – da ist mir zu viel Circel und zu wenig Einfall. – Innen ist sie entzückend. – Die Seitentheile aber finde ich ausgezeichnet. – Ich glaube, mit dieser Idee – könnte man oben – etwas Gutes machen. – Ich werde sie Dir in Toblach noch einmal geben. Von Dir, will ich nur


Vollkommenes. Von den Büchern habe ich sofort gelesen – und die fragliche Existen[z] dieses Menschen beginnt mich ungeheuer zu interessiren. – Aber Du hast ja recht – was ist alles Schreiberei? Sehen will ich Dich!! –

Wie geht’s Dir, wie siehst Du aus. Schick’ mir, was Du an neuen Bildern hast – von Dir – so schicke ich Dir bald auch[.] – Was schreibst Du vom Witwenschleier??? . . . . Hast Du mich schon \je/ im Phrasengetriebe gesehen!? Ich trauere ohne Schleier. Ich gehe – weiß – schwarz

oder – schwarz-weiß – denn ich habe keine Lust – „roth“ anzuziehen[.] – Aber mein Gesicht unter einer heißen Fahne verstecken – nein! —

Für wen – für ? Der hat mit mir, über all das gelacht. Für die „Menschen“ – was geben sie mir dafür – dass ich ihnen zu lieb Dinge contre cœur – thue? — Nichts!!??!! Und für mich? —

Ich weiß, was ich verloren habe – aber auch die Welt. Und sie trägt auch keinen Waisenschleier!! —


Die Sonne lacht weiter – heiter – ladet ein zum Heitersein – ich folge! Wohlwissend, dass meine mich zu Grunde richtende Trauer – nur mir schaden würde – niemandem zur Freude. So halte ich mir den Schmerz krampfhaft weg! – Verstehst Du mich? – Es geht mir besser – obwohl wieder ein paar weniger gute Tage waren. Aber die Zeit allein kann ja heilen . . . . —

So – Lieb – Liebster — ich umarme Dich[.]

Deine


Hättest Du eventuell Zeit[,] jetzt nach Wien [zu] kommen!? – Ich fahre hier am Dienstag weg – bin abends in Wien!! Wie wär’s, wenn Du – für 2–3 Tage hinkämst. Nur, dass wir uns sehen[,]


uns wieder – „kennen lernen“[.] Denke, mein Lieb, ob Du es kannst!!! —

Ich liebe Dich[,] meine Jugend[,] Du – meine Schönheit.

Deine


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

3 Bl. (6 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Berlin W | Nicolsburgerplatz 4. G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt. (lt. , S. 803, h 7d1): SEMMERING 1 | 22.VI.11 XII– | a; von WG mit einer 29 versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen). Von der Post mit einer großen „20“ in blauem Buntstift beschriftet, daneben mit „Porto“ gestempelt. Verweist auf unzureichende Frankierung (Gewicht höher als 20g), frankiert nur mit 10 Heller.

Druck

Erstveröffentlichung

Korrespondenzstellen

Antwort auf WG146 vom spätestens 21. Juni 1911 (Truhe): Tausend Dank für alles! Die Truhe ist famos. Beantwortet durch WG147 vom 23. Juni 1911 (Den Tag möchte ich bis Sonnabend früh wissen, da ich sonst keinen Schlafwagen bekomme): Hättest Du eventuell Zeit[,] jetzt nach Wien [zu] kommen!? – Ich fahre hier am Dienstag weg – bin abends in Wien!! und WG156 vom 4. oder 5. Juli 1911 (Caspar Hauser, schreibe mir darüber. Die Existenz dieses Menschen sehr interessant): Von den Büchern habe ich sofort Caspar Hauser gelesen – und die fragliche Existen[z] dieses Menschen beginnt mich ungeheuer zu interessiren.

Datierung

Folgt Poststempel.

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Fabian Müller)


A

Truhe – s. WG144 vom 13. oder 14. Juni 1911.

B

Caspar Hauser – historischer Roman (1908) von .

C

Was schreibst Du vom Witwenschleier??? – Entwurf nicht überliefert.

D

Ursprünglich: Fragezeichen.